4. März 2022
Ramona meint über den Landesjugendring Bremen in der UdSSR

„losgedacht“ ist eine Notizen-Rubrik aus unserem monatlichen Newsletter! Hier kommen Einzelne aus den Mitgliedsverbänden, aus den Vorständen, aus den Geschäftsstellen usw. zu Wort und teilen ihre Sicht der Dinge mit. Im Zentrum steht ein selbst gewähltes Thema – egal ob aktuelles Ereignis, Projekt oder (politische) Entwicklung – hier wird einfach mal losgedacht und eine persönliche Meinung sichtbar gemacht.
Ramona arbeitet seit 2017 als Öffentlichkeitsreferentin im Bremer Jugendring. Im Jahr 2018 erreichte das Büro des Bremer Jugendrings eine Kiste, versandt von einem ehemaligen Bildungsreferenten, der bei uns in den 1970er Jahren tätig war. Der Kisteninhalt: Super-Acht-Filme, Dias und prall gefüllte Leitz Ordner von Jugendbegegnungen des Landesjugendrings Bremen mit Israel, der DDR und der UdSSR. Letzterer Jugendbegegnung in die UdSSR, genauer gesagt nach Saporischschja in die damalige Sowjetrepublik Ukraine, widmete sich Ramona im Rahmen verschiedener Studienarbeiten. Für „losgedacht“ hat sie einen damals entstandenen Text noch einmal gekürzt und kommentiert.
Diese Woche dachte ich häufig an das Jahr 2018 zurück. Wegen der Kiste und den Interviews, die ich im Sommer desselben Jahres mit ehemaligen Teilnehmenden der Jugendbegegnung 1975 in der Sowjetrepublik Ukraine führte. Darüber hinaus reiste ich 2018 im Rahmen einer Uni-Exkursion nach Belgorod, einer russischen Großstadt, ca. 40 km von der ukrainischen Grenze entfernt. Der Kontrast beider Reisen war am stärksten in den unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten, die die Reisenden begleiteten. 1975 stand alles im hochpolitischen Zeichen der Versöhnung – 30 Jahre Frieden. 2018 sang ich mit meinen Kommiliton*innen und den russischen und ukrainischen Studierenden „Wind of Change“ in einer Karaoke-Bar in Belgorod. Tagsüber diskutierten wir über „Familiengeschichte“, dem zentralen Thema der Exkursion. Als gemeinsame Studienleistung erstellten wir ein Magazin. Dafür ist der unten angefügte Text ursprünglich entstanden. Jetzt, wo ich ihn wieder lese, stolpere ich über manches, was ich einst schrieb. Anderes habe ich 2018 bereits wahrgenommen, aber beim besten Willen nicht ausreichend verstanden. So bringt 2022 wieder eine neue Selbstverständlichkeit mit sich, deren Lesart das bereits Gesagte überschattet. Unmissverständlich deutlich dagegen damals bis heute: Bis zur Jugendbegegnung 1975 in Saporischschja war es ein langer, langer Weg. Ich hoffe, es möge für die Jugend der Zukunft ein kürzerer werden. Ich hoffe allem voran auf Frieden in der Ukraine.
Transkulturelle Zahlen (2018)
Ich schreibe aus der Retroperspektive (unsere Uni-Exkursion fand im Mai 2018 statt, nun ist es bereits November), nur um dann noch tiefer in die Vergangenheit einzutauchen: Juli 1975. Wie erinnert man im Sommer 2018 eine Jugendbegegnung, die über 40 Jahre zurück liegt? Und wo finden sich Gemeinsamkeiten zwischen dieser und meiner Reise?
Heute gibt es dank der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch, Meet up! Deutsch-Ukrainische Jugendbegegnung, diversen DAAD-Förderungen, etc. zahlreiche ähnliche Exkursionen wie die unsere. Im Jahr 1975 war das noch anders. Die Bremer und Bremerhavener Jugendlichen, die im Rahmen der Jugendbegegnung nach Saporischschja (in der heutigen Ukraine) fuhren, waren Teil der ersten Jugendgruppe aus der BRD überhaupt, die eine solche Reise antrat. Dass der „Osten“ sich heute näher anfühlt als damals, ist keineswegs selbstverständlich, sondern das vorläufige Ergebnis einer in den 1970er Jahren begonnenen Entspannungspolitik. Mit „vorläufig“ will ich die Dringlichkeit unterstreichen, derartige Programme fortzuführen und ihnen nicht auf Grund des langjährigen Vorhandenseins einen Innovationscharakter, den es leider zunehmend bedarf um Gelder zu rechtfertigen, abzusprechen. Die positiven Erfahrungen, die ich in Russland machen konnte, wünsche ich mir auch für die Jugend von morgen und übermorgen und überübermorgen. Kein Wissen kann so gut weitergegeben werden, wie eigene Erfahrungen unsere Perspektiven formen.
In der Bibliothek lese ich ein Zitat über das Europabild der Jugend Ende des letzten Jahrhunderts und stelle mir die Frage: Was ist im Hier und Jetzt anders?
„Ja, das östliche Europa war uns abhandengekommen, wir waren aus einem Zusammenhang herausgefallen, und wir empfanden es nicht einmal als allzu großen Verlust, weil der Zugewinn an Freiheiten, Wohlstand, Sicherheit mehr als genug entschädigte. Aber irgendetwas stimmte nicht, an dieser neuen Weltlage, irgendetwas fehlte. Es gab Phantomschmerzen“ (Schlögel 2007, S. 158)
Ich sehe heute die Möglichkeiten der Annäherung, aber sie sind rar und sie geraten vor allem nach wie vor in Vergessenheit. Erst wenn wir lernen, Europa außerhalb Westeuropas zu denken, erst wenn wir bei der Frage nach europäischen Hauptstädten nicht leichtfertig mit Berlin, Paris, Rom antworten, erst wenn das Lernen von osteuropäischen Sprachen verstärkt gefördert wird, erst wenn wir in Studiengängen, die sich das Erforschen von globalen Machtverhältnissen auf die Fahne schreiben, aufhören in Kontinenten, sondern stattdessen in einer Welt der Regionen zu denken – mit viel ausdifferenzierteren Hierarchien als sie eine Gliederung in Kontinente abbilden kann, erst dann können wir von einer tatsächlichen Annäherung sprechen. Ich, Jahrgang 1994, spüre vielleicht keine Phantomschmerzen mehr, aber was bleibt, ist ein ziemlich fader Beigeschmack.
Im Sommersemester 2018 hatte ich zwei russlandbezogene Projekte: Die Russlandexkursion zum Thema Familiengeschichte und ein Zeitzeug*innenprojekt zur ersten Jugendbegegnung zwischen der UdSSR und der BRD 1975. Der Offenheit dieser Studienleistung ist es zu verdanken, dass längst entstandene gedankliche Verknüpfungen legitim enthüllt werden können.
„Dieses erste offizielle Jugendtreffen in der UdSSR ist im Sinne des Gesprächs zwischen dem Landesjugendring Bremen und der Delegation des KJO der UdSSR im Januar 1975 als ein Beitrag für den Frieden und die Sicherheit in Europa anläßlich des 30. Jahrestages der Beendigung des 2. Weltkrieges und als ein praktischer Schritt auf dem Wege der Ausfüllung des Moskauer Vertrages mit konkretem Inhalt anläßlich des 5. Jahrestages der Unterzeichnung zu sehen.“ (Aus der Presseerklärung des Landesjugendrings Bremen e.V. zum Jugendtreffen in der UdSSR, vermutlich Juni 1975)
Erste! Das erste Jugendtreffen zwischen der BRD und der UdSSR. Das erste ist immer besonders. Das zweite kann es auch sein, aber dann bedarf es zusätzlicher Erklärungen. Die Besonderheit des ersten auszudrücken, ist überflüssig, bedarf keiner weiteren Worte als dem einen kleinen Wunderwort selbst: Erste! Auch Herr B. erinnert sich an das erste.
Er war damals jünger als jetzt, also aus heutiger Sicht jung. Seine Haare waren damals länger als jetzt, also aus heutiger Sicht verdammt lang. Schulterlänge! Ich habe das Gefühl, er war damals politisch linker zu verorten als jetzt, aber vielleicht konstruiere ich nur unnötige Extreme. Er spricht:
„Das war ja damals der erste Jugendaustausch überhaupt, zwischen einem westdeutschen Landesjugendring und der sowjetischen Republik. […] Die ganze Jugendbegegnung fand im Zuge der Entspannungspolitik Willy Brandts statt, seine Ostpolitik und Bremen war ja als Landesjugendring einer der linken Verbände, die die Entspannungspolitik sehr unterstützt haben und das ging bis hin zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und das war ja damals noch ein ganz großer Punkt in der politischen Diskussion. Und so ist der Landesjugendring auch in Kontakt gekommen zu dem Komsomol in der Ukraine, das war schon witzig, eine riesige Republik, damals einwohnermäßig sogar die größte und dann unser kleiner Jugendverband, das war schon witzig, aber weil Bremen daran Interesse hatte, gab es diesen Austausch und da gab es natürlich vorher Konsultationen […] in Kiew oder vielleicht auch in Moskau und hier war bestimmt auch eine Delegation aus der Ukraine, um das klar zu machen, das war wahrscheinlich nicht so einfach, schon spannend.“ (Interview mit Herrn B., August 2018)
Erste! haucht es fort. Es ist die Aufbruchsstimmung der Vergangenheit. Erste! macht nur Sinn, wenn die Gewissheit besteht, dass weitere Zweite! Dritte! Fünfhundertvierundzwanzigste! folgten. Sonst könnte man ja Einzige! sagen und das wäre dann noch spektakulärer.
In der Pressemitteilung steht, dass die Jugendbegegnung als „praktischer Schritt auf dem Wege der Ausfüllung des Moskauer Vertrages mit konkretem Inhalt“ gedacht war. Praktisch finde ich gut, konkret auch. Klingt für mich beides überzeugend effektiv. Schluss mit dem Reden um den heißen Buchweizenbrei, wir fahren da jetzt einfach mal hin! Das kleine Bremen auf internationaler Bühne – ganz groß dank linkem Verbandsidealismus?
Feststeht: Das Treffen war hochpolitisch. Der Landesjugendring Bremen hatte Interesse an einer sowjetisch-bundesdeutschen Jugendbegegnung und der Landesjugendring Bremen war klein genug, um politische Einstellungen seiner Mitgliedsverbände zu überblicken – ein Eklat vor Ort wäre definitiv für alle Beteiligten unvorteilhaft gewesen. Vor allem aber war auch die offizielle politische Ausrichtung der Bremer und Bremerhavener Mitgliedsverbände für eine solche Begegnung geeignet. Herr B. erwähnte die gesellschaftliche Diskussion um die Oder-Neiße-Grenze. Bis in die 1970er Jahre gab es in der BRD noch Jugendverbände, die diese Diskussion in einer offiziell revanchistischen Ausrichtung widerspiegelten: beispielsweise die DJO (früher Deutsche Jugend des Ostens, ab 1974 Deutsche Jugend in Europa), deren Gründungsgedanke es war, Jugendlichen nach dem 2. Weltkrieg den Gedanken einer deutschen Wiederbesiedlung Osteuropas zu vermitteln. Nachdem seitens der Mitgliederliste des Landesjugendrings Bremens kein Konfliktpotential befürchtet werden musste, weil entsprechende Verbände fehlten, konnte der Besuch des Komsomols der Ukraine in die Planung übergehen. Konkret, praktisch, gut.
Was ist eigentlich ein Komsomol? Komsomol war die Jugendorganisation der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion), mit nach den jeweiligen Sowjetrepubliken unterteilen Einheiten – z.B. dem Komsomol der Ukraine.
Herr B. findet den Besuch des kleinen Landesjugendrings Bremen in der großen Sowjetrepublik Ukraine „schon witzig“ und „schon spannend“ zugleich. Dieses Beschreibungspaar ist eine gefühlte Gemeinsamkeit zu unserer Exkursion nach Belgorod. Eine weitere ist die räumliche Nähe. Belgorod liegt sehr nah an der Ukraine und ist damit auch keine fünf Fahrstunden von Saporischschja entfernt. Aber anders als 1975, anders als noch vor wenigen Jahren, ist der Grenzübergang heute ein komplizierter und zu den fünf Fahrstunden muss man Stunden des Wartens addieren. Die Super-Acht-Aufnahmen aus dem Jahr 1975 zeigen Menschen im Nachtzug von Moskau nach Kiew. Das Kabinenlicht ist schon aus, nur noch eine kleine Nachttischlampe brennt. Bald wird auch der Filmer ruhen. Schön finde ich die Grenzen, die man ungestört verschlafen darf.
Das Thema unserer Uni-Exkursion ist: Familiengeschichte. Wir lesen zur Vorbereitung „Vielleicht Esther“, ein Buch von Katja Petrowskaja aus dem Jahr 2014. Sie schreibt über ihre Großmutter, die vielleicht so hieß wie es der Titel des Buches vermuten lässt. Sie schreibt über ihre jüdische Familie in Kiew und die Folgen des nationalsozialistischen Völkermordes. Sie schreibt über diese Stadt, in der ihre Großmutter als Einzige der Familie zurückblieb, nicht floh und von wo aus sie nach Babij Jar verschleppt wurde. Sie schreibt über 33 000 Juden, die in Babij Jar ermordet wurden und sie schreibt darüber, wie große Zahlen nichts zu beschreiben vermögen. Auch ich verliere die Vorstellungskraft hinter großen Zahlen wie dieser: 33 000.
Im Rahmen unseres Exkursionsthemas führen wir Interviews mit Großmüttern über Familienprägungen – einmal in Russland, einmal in Deutschland. Zwei Omas insgesamt. Hildegard ist unsere stellvertretende Oma für alle deutschen Omas. „Jetzt brauchen wir noch eine deutsche Oma. So zum Vergleich!“, rufen die reflektierten Kulturwissenschaftlerinnen von heute. Hildegard erzählt von ihrem Vater, der als junger Mann nicht Lehramt studieren konnte, weil er Hitler-Gegner war und deswegen auch im Gefängnis saß:
„Und das ist interessant, dieses Thema, dass er nicht das werden konnte, was er wollte. Das hat alle irgendwie beschäftigt. Wir sind fast alle Pädagogen geworden, also ich, ich war freiberuflich tätig. Aber auch welche im Schuldienst, Schulleiter, Kindergärtnerin, dann Sonderschullehrerin, Professor, ist alles vertreten. Das zieht sich so durch.“ (Interview mit Hildegard, Mai 2018)
Auch in Katja Petrowskajas Familie gab es viele Pädagog*innen. Das ist nur Zufall, aber das hindert den Zufall nicht daran, über den Zufall hinaus eine Gemeinsamkeit zu sein.
Ich provoziere nicht den Krieg als Thema. Das Thema Krieg provoziert mich. Wir wollten ja eigentlich über Familie sprechen und uns auf Omas konzentrieren. Ich lese über eine Oma, die vielleicht Esther hieß und die im Krieg starb. Ich unterhalte mich mit einer Oma, die sicher Hildegard heißt und die als Ausgangspunkt ihrer Familiengeschichte den Krieg nimmt: „[…] und jedes Mal wenn er [ihr Vater] Urlaub [Fronturlaub] hatte, hat er ein Kind gezeugt. Wir waren eine große Familie als der Krieg endlich zu Ende war.“ (Interview mit Hildegard, Mai 2018)
Der Krieg und die Pädagog*innen und die Kinder, denen sie lehrten: Nie wieder Krieg. Und die Zeitzeug*innen, die sterben und die Gesellschaft, die nicht vergisst, aber erinnert, als wäre das eine damals und das andere jetzt. Wenn wir bald keine Zeitzeug*innen mehr haben, die Vergangenheit und Gegenwart für uns anschaulich verbinden, dann müssen Kinder weniger lernen und stattdessen mehr verstehen. Nie wieder Krieg – sagt sich so leicht, schreibt sich so leicht. Am besten noch mit einem Ausrufezeichen hinten dran. Nie wieder Krieg! „Nie wieder Krieg!“ denkt sich schwer, weil ich weiß, dass schon Generationen vor mir dasselbe gesagt und geschrieben, sogar aufrichtig gedacht haben und dann bitter enttäuscht wurden. Diese Schwere des Denkens ist eine Last, aber eine notwendige, weil sie aufrüttelt, ängstigt und begreifen lässt, dass Frieden auch in Zeiten des Friedens nie selbstverständlich ist: Vielleicht nie wieder Krieg.
Kann man nach Russland fahren und den Krieg ausblenden? Kann man mit Omas über ihre Familiengeschichte sprechen und den Krieg aussparen? Vielleicht hieß Esther anders. Vielleicht hätte Hildegard ohne Krieg noch mehr Geschwister gehabt. Ich finde, wir brauchen mehr Fragen, die nur mit „vielleicht“ zu beantworten sind. Vielleicht ist nie eine zufriedenstellende Antwort und genau deswegen so attraktiv. Ein Vielleicht lässt sich nicht abschließend klären, es bleibt an dir haften und egal wohin du gehst, kann es dich wieder fragen. Vielleicht ist gegen das Vergessen des Denkens.
„Vor dreißig Jahren war der II. Weltkrieg – der mörderischste aller Kriege in der Geschichte der Menschheit zu Ende. Wir, die Sowjetmenschen, können es nicht fertigbringen, die Kriegsjahre aus der Erinnerung zu löschen. Für uns ist die Erinnerung an diesen Krieg mit den in der Geschichte einzig dastehenden Zerstörungen, mit dem unendlichen Leid und Tod von Millionen Menschen verbunden. Die Erinnerung an den Krieg ist in unserem Bewußtsein mit dem Kampf für Jahrzehnte von den Schrecken eines Weltkrieges erlöst hat und der, wir sind sicher, letzten Endes das Ausschließen des Krieges aus dem Leben der menschlichen Gesellschaft bewirken wird.“ (Aus der Eröffnungsrede der sowjetischen Gastgeber*innen im Rahmen des „Treffens der Jugend“ im Juli 1975)
Die Jahreszahl als Kontinuum, nur die Zahl dazwischen, die verändert sich. Eintausendneunhundertfünfundvierzig versus dreißig. Die eine Zahl ist heute anders, die andere immer noch gleich: 1945.
Gemeinsam mit Herrn S. schaue ich alte Super-Acht-Filme zur Jugendbegegnung 1975 an. Es ist August und heiß draußen. Ich habe gesunde Kekse aus Körnern gekauft. Der Projektor rattert, aber so wie er rattert, wenn er es gut mit mir meint. Das beruhigt mich. Der Projektor, Herr S. und ich treffen uns bereits zum zweiten Mal. Beim ersten Mal hat der Projektor konstant falsch gerattert und keine Bilder ausgespuckt. Heute sehen wir Nostalgie ohne gleichnamigen Filter. Eine Kranzniederlegung. Menschen laufen zur Flamme. Jugendliche salutieren. Eine Mutter-Statue.
In Russland sagt man „Mutter Russland“. In Deutschland sagt man „Vaterland“. Der „Große Vaterländische Krieg“ sagt Herr S. einmal während unserem Gespräch. Herr S. sagt auch: „Das ist meine Frau. Als verdiente Mutter des deutschen Volkes musste sie den Kranz tragen. Sie wurde gewählt, weil sie eine Mutter war. Wir hatten schon zwei Kinder.“ (Interview mit Herrn S., August 2018)
Herr S. sagt Dinge in einer ironischen Tonlage. Er weiß, dass der „Große Vaterländische Krieg“ und die „verdiente Mutter des deutschen Volkes“ mich irritieren. Er ist mein Zeitzeuge und die ironische Tonlage ist eine Brücke zwischen seiner Vorstellung von meiner gegenwärtigen Welt und dem Verständnis seiner vergangenen. 2018, d.h. 43 Jahre 30-jähriges Erinnern an 1945. Nicht nur das Erinnern braucht Brückenbauer*innen, auch das Erinnern an das Erinnern will verstanden werden.
Es gibt keine „Sowjetmenschen“ mehr. Es gibt sogar wieder Krieg dort, wo sie einst lebten und „das Ausschließen des Krieges aus dem Leben der menschlichen Gesellschaft bewirken“ wollten. Der Zug hält heute an der Grenze und für manche fährt er ab dann nicht mehr fort. Auch in Deutschland hat sich im Vergleich zu 1975 einiges verändert.
Erinnern an das Erinnern bedeutet, erinnern an eine Zeit, in der weniger Zeit vergangen war zwischen der Erinnerung und dem Erinnerten als jetzt. Länder dekonstruierten sich, wurden zu vielen neuen oder wuchsen zusammen. Kontexte verschoben sich und das einst Selbstverständliche wurde längst von anderen Selbstverständlichkeiten überlagert. Erinnern an das Erinnern ist deswegen wichtig, weil wir nur so die subtilen Unterschiede bemerken können, die jahrelange Sich-Erinnern-Prozesse hervorbringen – im Positiven wie auch im Negativen. Wir nehmen an, wir erinnern konstant und ignorieren, wie der fortwährende Lauf der Geschichte unbemerkt und ungeniert Einfluss auf unsere Erinnerung nimmt.
Sobald das Erinnern zu etwas wird, mit dem man sich schmückt, auf das man stolz ist oder das in seinem gegenwärtigen Ausmaß als ausreichend (in besonders naiven Fällen sogar als zu viel) kommuniziert wird, insbesondere dann bekomme ich Zweifel, ob der Kern der Sache, das eigentliche Geschehen überhaupt noch zählt oder bereits entfremdet wurde, nur um wieder neuen Zeitgeistern gerecht zu werden. Das Gefühl, dass diese Zeitgeister heutzutage zusehends nationaler Natur sind, macht ihre Ablenkungsmanöver im offiziellen Dienste der Erinnerung und des Bewahrens von Frieden für mich nur umso ambivalenter. Die besonders naiven Fälle verhalten sich hierbei anders: Ihr Wunsch nach weniger Erinnern macht den fehlenden Link zwischen Vergangenheit und Gegenwart einfacher zu erkennen als in den davor beschriebenen. Die einen erinnern und beziehen es auf nichts, die anderen erinnern nicht und beziehen es auf nichts. Alle Geister gruseln.
Wir kommen spät abends im Wohnheim an. Wir stehen blöd in der Eingangshalle rum und warten. Keine Ahnung, vielleicht gibt es irgendein Problem mit den Zimmern. Studierende gehen ein und aus. Nicht ohne uns neugierige Blicke zuzuwerfen. Sie wirken alle ein bisschen jünger als wir. Vielleicht fragen sie sich, wer diese alten Frauen mit Backpackerrucksäcken sind. Im Fernsehen läuft ein Beitrag über die Militär-/Erinnerungsparade am 9. Mai, der Tag des Sieges in Russland. Heute ist der Dreizehnte. Menschen tragen Bilder von ihren im 2. Weltkrieg verstorbenen Verwandten durch die Straßen Moskaus. Putin voran. Andere halten Russlandflaggen hoch und manche fahren Panzer.
Ich stehe in der Eingangshalle dieses russischen Wohnheims rum und lasse Bilder auf mich wirken. Irgendwann werde ich in einem Zeitungsartikel (Rietzschel, SZ am 09.05.2014) lesen, dass die Parade im Russland der 1990er Jahre nur einmal stattfand (1995) und dann ab 2008 jährlich. In diesem Jahr rollten auch erstmals nach Zerfall der Sowjetunion wieder Panzer mit. Und siehe da: Ich kann es nicht lassen – lasse Zahlen auf mich wirken.
Katja Petrowskaja sagt: Ihr Buch könnte in viele Sprachen übersetzt werden, aber ganz sicher nicht ins Russische. Für das Russische müsste sie ein komplett neues Buch schreiben. (Deutsche Übersetzung eines russischen Interviews zwischen Anastasija Buzko und Katja Petrowskaja) Lena, unsere russische Dozentin sagt: „Vielleicht Esther“ liest sich aus russischer Perspektive teilweise „schwierig“. Das glaube ich beiden, weil ich es selbst nicht beurteilen kann. Und doch frage ich mich, was der Grund dieser Inkompatibilität ist und was zerbräche, würde man sie missachten? Aus deutscher Perspektive liest sich das Buch nämlich, nun impulsiv beurteilt, ziemlich gut.
Petrowskaja schreibt über ihren Besuch Babij Jars:
„Wir versinken bis zu den Knien im Laub, sehen ein paar überwucherte Grabsteine, mit russischen oder hebräischen Buchstaben. Irgendwann hat es hier Friedhöfe gegeben, den alten jüdischen, den russischen Soldatenfriedhof und den Karäer-Friedhof, nach dem Krieg wurden sie demoliert, auf einem Teil der riesigen Fläche stehen heute ein Fernsehturm und ein Fernsehstudio. […] und als ich meinen Engel vorsichtig frage, wo wir uns befinden, sagt er, früher war hier Babij Jar.“ (Aus „Vielleicht Esther“, S. 194)
Petrowskaja kritisiert – nicht direkt, aber über ihre persönlichen Beobachtungen umso eindringlicher. Sie kritisiert den Umgang der Sowjetunion mit den Friedhöfen und das fortwährende Fehlen eines gebührenden Gedenkortes für die von den Nationalsozialisten ermordeten Juden. Also frage ich mich: Sind es Sätze wie diese, die sich nicht ins Russische übersetzen lassen? Ich tue etwas unwissenschaftliches, lese den Wikipedia-Artikel zu Babij Jar und beantworte die Frage mit: Vielleicht. Ich verwende das Verb „tun“, um stilsicher noch unwissenschaftlicher zu wirken.
Mutter Russland. Ihre Flammen brennen im ganzen Land. Die russischen Teilnehmerinnen führen uns durch Belgorod. Vor der Statue halten wir inne. Es gibt noch keine verdienten Mütter unter uns und einen Kranz haben wir auch nicht dabei. Vor 73 Jahren war der Krieg vorbei. Es ist gut hier zu sein und miteinander zu reden, statt nur Bilder zu sehen und Wörter zu lesen.
Ich verlasse Belgorod mit dem Zug und fahre weiter nach Kursk. Belgorod hatte einst eine gute Erde. Die haben die Nazis geklaut, auf Zugwaggons gescharrt und nach Deutschland gefahren. Vielleicht also wachsen auch heute noch deutsche Eichen auf russischem Grund. Gemüse ist in Russland teuer, lernen wir. Ich finde Gemüse in Deutschland erschwinglich. Ein bisschen weiß ich deswegen nicht was ich sagen soll und blicke bedrückt auf den Boden meines leergegessenen Salattellers. Heute gab es Algen.
Überall verstecken sich unverknüpfte Konsequenzen. 73 Jahre und der Krieg wirkt immer noch fort. Und „immer noch“ betrübt und „immer noch“ ist eine Last wie das Fragezeichen hinter „Nie wieder Krieg?“ und deswegen auch genauso wichtig. Ich habe keine Lust weitere Panzer zu sehen. Weder russische noch deutsche, die für Nato-Manöver gen Osten rollen, um dort für den Ernstfall zu üben. Ich will nicht einfach nur erinnern. Ich will erinnernd selber denken und so versuchen, Vergangenheit und Gegenwart fortwährend zu verbinden.
Sekundärquellen:
Petrowskaja, Katja (2014): Vielleicht Esther. Geschichten. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Petrowskaja, Katja; interviewt von Anastasija Buzko, freie Übersetzung vom Russischen ins Deutsche nach unserer Dozentin Lena.
Schlögel, Karl (2007): Europa neu vermessen. In: Die Rückkehr des Ostens in den europäischen Horizont. (Band 35, Heft 3) Wiesbaden: VS Verlag, S. 277-294.
Rietzschel, Antonie: Warum der 9. Mai für Russland so wichtig ist. Süddeutsche Zeitung, am 09.05.2014. URL: www.sueddeutsche.de/politik/tag-des-sieges-warum-der-mai-fuer-russland-so-wichtig-ist-1.1955031; zuletzt aufgerufen am 25.11.2018.
Primärquellen:
Presseerklärung des Landesjugendrings Bremen e.V. zum Jugendtreffen in der UdSSR. 1975.
Eröffnungsrede der sowjetischen Gastgeber*innen im Rahmen des „Treffens der Jugend“. Juli 1975.
Interview mit Herrn S., 07.08.2018, 14 Uhr, Raum des Bremer Jugendrings, Überseestadt.
Interview mit Herrn B., 14.08.2018, 15 Uhr, Raum des Bremer Jugendrings, Überseestadt.
Interview mit Hildegard, 30.05.2018, 16 Uhr, in Hildegards Schrebergarten, Schwachhausen.