Stefan meint zum Wahlrecht unter 18

„losgedacht“ ist eine Notizen-Rubrik aus unserem monatlichen Newsletter! Hier kommen Einzelne aus den Mitgliedsverbänden, aus den Vorständen, aus den Geschäftsstellen usw. zu Wort und teilen ihre Sicht der Dinge mit. Im Zentrum steht ein selbst gewähltes Thema – egal ob aktuelles Ereignis, Projekt oder (politische) Entwicklung – hier wird einfach mal losgedacht und eine persönliche Meinung sichtbar gemacht. Stefan arbeitet als Dramaturg im Theater Bremen. Anfang Juli 2021 organsierten wir dort gemeinsam mit ihm die Podiumsdiskussion „Wem gehört die Demokratie?“. Für „losgedacht“ hat er sich Gedanken zum Generationenkonflikt und zum Wahlrecht unter 18 gemacht.
Alt gegen jung? Über Kulturk(r)ämpfe und Wahlrecht ab 16 oder ab Geburt
Am Theater beschäftigen wir uns viel mit Fragen der Repräsentation. Wer darf für wen sprechen, wen und was verkörpern, wer bekommt eine Bühne, eine Plattform, eine Stimme?
Wer nicht? Und wie lässt sich das ändern?
Auf den Bühnen, die die Welt bedeuten, geht es oft um fiktionale Geschichten und „Symbolpolitik“. In der real-politischen Welt stellt sich die Frage nach der Repräsentation nochmal anders. Zum Beispiel so: Knapp 84 Millionen Menschen leben in Deutschland, aber bei der Bundestagswahl diesen Herbst dürfen nur 60,2 Millionen wählen.
Es gibt also kein „Wahlrecht für alle“, der lange Weg der Demokratisierung ist noch nicht zu Ende. Seine Anfänge, so wird erzählt, lagen im antiken Griechenland, „Wiege der Demokratie“ – aber da war die „Polis“ eine Sache nur der Minderheit, der freien Männer.
Heute sind in Deutschland über 10 Millionen Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Und 13 Millionen, weil sie unter 18 Jahre alt sind. Wenn nun Jugendliche fordern, sie wollen schon ab 16 oder 14 wählen, gibt es erschreckend viele Menschen (und Parteien), die ihnen das absprechen. Menschen, die selbst wählen dürfen, es aber anderen nicht zugestehen: „Das war noch nie so, wo kommen wir da hin!“
Es hilft, sich daran zu erinnern, dass auch 18 Jahre eine Setzung und Behauptung ist. Überhaupt, das ganze Wahlrecht. Man muss nicht ans Ständewahlrecht denken, wo Reiche und Adelige mehr Stimmgewicht hatten. Auch ein Blick ins 20. Jahrhundert hilft. In deutschen Landen dürfen Frauen seit 1918 wählen. In Frankreich (auf nationaler Ebene) seit 1945. In der Schweiz seit 1971, in Liechtenstein seit 1984. Was uns heute selbstverständlich scheint, wurde erst nach jahrzehntelangen Kämpfen durchgesetzt gegen die (Männer), die sagten, „das war noch nie so“.
In Deutschland durfte ab einem Alter von 21 Jahren gewählt werden. Erst seit Beginn der 1970er ist das ab 18 möglich. Warum nicht schon ab 16 oder ab Geburt? Und hat das was mit Macht- und Generationenkämpfen zu tun?
Manch ältere Menschen regen sich aktuell darüber auf, dass die „Kulturkämpfe“ so heftig geführt werden, dass junge Menschen und Studierte „so aggressiv“ Veränderungen einfordern. Einen faireren Umgang mit dem Planeten, der Natur, dem Globalen Süden zum Beispiel, oder auch nur rücksichtsvollere Sprach- und Umgangsformen.
Nun bin ich selbst schon halbalt (Durchschnitt) und mein innerer Schweinehund kann manche Trägheit nachvollziehen à la „warum sollte das, womit ich aufgewachsen bin, plötzlich falsch sein?“. Aber vieles ist eben nicht „plötzlich“ nicht in Ordnung, sondern war es noch nie. Viele von uns sind oder waren einfach nur zu ignorant und privilegiert, sich darum zu scheren, oder sind zu egoistisch, eigene Freiheiten einzuschränken, wenn sie Grenzen anderer (oder gar des Planeten) überschreiten.
Ich verstehe die Ungeduld von (jungen) Menschen sehr gut. Seit Generationen werden Veränderungen, Verbesserungen, „politische Korrekturen“ gefordert – und ignoriert. Klar, gesellschaftliche Veränderung geht langsam, das Bohren dicker Bretter und der Gang durch die Institutionen brauchen Jahrzehnte und schleifen manche Ziele und gute Ideen ab. Aber es ist schon krass: der Club of Rome hat seinen Bericht zu den „Grenzen des Wachstums“ bereits 1972 vorgelegt, ein halbes Jahrhundert ist das her. Wieso ist so wenig passiert? Wieso reden sich Klimawissenschaftler*innen seit Jahrzehnten den Mund fusselig bis hin zum Burnout, und wieso erdreisten sich Verantwortungsträger*innen, das einfach zu ignorieren? Wieso müssen Kinder und Jugendliche Schule schwänzen, weil die Erwachsenen zu stur sind mit ihrem Besitzstandswahren und öligem Wachstum? Wie laut muss man schreien, um gehört zu werden? Gut nachvollziehbar, dass man wütend wird und (ver)zweifelt.
Jugendliche gingen und gehen freitags (sehr friedlich) fürs Klima auf die Straße. Sie tragen Hauptlasten der Pandemie. Selbst nach 1,5 Jahren sind nur Bruchteile der Klassenzimmer mit Belüftungsanlagen ausgestattet. Die Bildungs- und Familienpolitik ist viel zu träge, wie auch die Sozialpolitik. Ein Viertel der Minderjährigen (2,8 Millionen) wird laut Paritätischem Wohlfahrtsverband als arm eingestuft. Und dass die aktuellen Generationen auf Kosten der kommenden leben, ist allgemein bekannt. Warum dürfen Kinder und Jugendliche nicht mehr mitbestimmen? Wählen?
Ich denke nicht, dass man eine neue, letztlich willkürliche Altersgrenze festlegen müsste oder gar sollte. Ich denke, jeder Mensch hat das Recht zu wählen, gleichsam ab Geburt. Und damit meine ich nicht Absurditäten, von denen unsere Geschichte ja auch voll ist, wie zum Beispiel die Krönung von Kleinkindern, die im Mittelalter als voll regierungsfähig galten. (Der Merowinger Clothar II. war vier Monate alt, als er König wurde, Eduard VI zehn Jahre.)
Also: wer sich alt genug fühlt, interessiert und informiert genug, der kann zur Wahl gehen. (Sich dafür meinetwegen auch erst in ein Wahlregister eintragen lassen, falls sowas nötig sein sollte.) Wer nicht, der geht (noch) nicht. Punkt.
Manche Menschen sind auch mit 44 noch nicht imstande zu klugen politischen Entscheidungen. Und wie ist das mit alten, debilen Menschen? Warum sollten Erstwähler*innen das Problem sein – und nicht „Letztwähler*innen“?
Nico Semsrott drehte 2019 folgenden Wahlwerbespot: Eine Szene am Krankenhausbett, ein weißhaariger Mann an piepsenden Maschinen. „Dieser alte weiße Mann ist so gut wie tot, aber immer noch wahlberechtigt. Wie fast 5 Millionen andere Letztwähler in Deutschland entscheidet er über eine Zukunft, die er selbst nicht mehr erleben wird. Mit einem Durchschnittsalter von 44 Jahren ist Europa das Altenheim der Welt. Jeder dritte Wahlberechtigte in Deutschland ist über 60 … Viele dieser Menschen sind für die Abschottung Europas, sexistische Rollenbilder und veraltete Werte, oder kurz: für das Wahlprogramm der CDU. … Darum fordern wir von der Partei Die PARTEI die Einführung des Höchstwahlalters. Wenn die Menschen in den ersten 18 Lebensjahren nicht wählen dürfen, sollten sie auch in den letzten 18 Lebensjahren nicht wählen dürfen.“
Das ist zwar Polemik, wird aber erstens von Jahr zu Jahr schlimmer (bei der diesen Herbst werden bereits 38 Prozent über 60 sein) und verweist zweitens auch darauf, dass hinter Entscheidungen übers Wahlalter knallharte machtpolitische Interessen stecken – genau wie bei der Entscheidung zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht, dem Zuschnitt von Wahlkreisen usw. Das üble Spiel, das die Republikaner*innen in den USA spielen, um z.B. schwarze Menschen von den Wahlurnen fernzuhalten, ist besonders dreist. Aber auch hierzulande spielen parteipolitische und machtstrategische Überlegungen eine Rolle bei der Gestaltung des Wahlrechts (siehe Wahlrechtsreform 2020).
Nun ist es nicht so, dass alle jungen Leute Greta, Luisa oder Anuna heißen und sich automatisch für eine fairere und grünere Welt einsetzen würden. Viele sind ja auch nur kleine Kopien, Nachplappernde oder Pubertätsprotestierende, geprägt von Elternhäusern, Lehrer*innen, social media Influencer*innen und Konventionen, in die sie hineinwachsen. Trotzdem zeigt die Wahl zwischen Laschet und Baerbock laut ZDF-Politbarometer (Ende Juli) klare Tendenzen in Bezug aufs Alter. Zweimal darf man raten, wen Jungwähler*innen bevorzugen. Die über 60-jährigen präferieren jedenfalls den gemütlichen Aussitzer, das kennen sie ja von 16 Jahren Merkel und 16 Jahren Kohl …
Ein Blick in Parteien und selbst in deren Jugendorganisationen zeigt: die meisten sind für eine Absenkung des Wahlalters. Wenn das in vielen Ländern und Kommunen schon längst möglich ist, warum nicht auch bundesweit immerhin auf 16? Die frühvergreiste „Junge Union“ allerdings ist selbst dagegen. Bei einem Podium neulich vor unserem Theater („Wem gehört die Demokratie?“) sagte der Vertreter der Jungen Union, dass ihm die aktuelle Regel ganz richtig scheint. Natürlich. Ein Wahlrecht allerdings erst ab 21, wie es bis 1970 galt, das schiene ihm doch viel zu spät.
Wenn ich 17 wäre, würde ich mich bedanken. Dann dürfte ich dieses Jahr nämlich nicht zur Bundestagswahl gehen, sondern erst in vier Jahren. Dann wäre ich Erstwähler*in – mit 21, viel zu spät! Will sagen: bei Legislaturperioden von vier Jahren bedeutet ein Wahlalter ab 18 statistisch und real ein Durchschnittsalter der Erstwähler*innen von mindestens 20 Jahren. Alles vorher halten die „Christsozialen“ für nicht wahl- und zurechnungsfähig. Bzw. tun so, um sich eigene Vorteile zu sichern und weil halt immer alles so bleiben soll, wie es ist.
Ich persönlich glaube, dass vieles anders werden muss, zum Wohl der Zukunft, der Natur, der sozialen Gerechtigkeit usw. Wirklich vieles. Großes. Dass die führende Partei mit dem C selbst so einen kleinen Baustein wie die Absenkung des Wahlalters von 18 auf 16 blockiert, ist kein gutes Zeichen. Weder für Partei noch Land noch Klima.
Ich hoffe sehr, dass die, die wählen dürfen, daran denken. Und an all jene denken, die von der Bundestagswahl ausgeschlossen sind: ein Viertel der Bevölkerung! Neben den Minderjährigen die Nicht-Pass-Besitzer*innen. Gleicht dieses unfaire System aus, denkt und wählt für sie und ihre Belange mit – und warum nicht gleich auch für die der kommenden Generationen und der Natur und Arten usw.
Zum Schluss noch ein Lesetipp: „Politische Korrekturen“ von Dietrich Diederichsen. Da zeigt und analysiert er messerscharf, wie „Konservative“ ihre alten Werte bewahren gegen die Forderungen der Jungen und Studierenden. Und wie sie viele dieser Forderungen nach mehr Anstand, Respekt, Rücksicht und Verantwortung verunglimpfen: als „Tugendterror“ und „Politische Korrektheit“ von „Gutmenschen“. Scheint Ihnen das eine aktuelle Debatte? Das Buch ist von 1996, ein Viertel Jahrhundert alt, da war Kohl noch Kanzlerin (Männer sollen sich bitte mitgemeint fühlen) und der Bundestag war noch in Bonn.
Man muss sich also keine Sorge machen, dass Veränderungen zu schnell gingen in diesem Land, im Gegenteil, alles noch wie vorgestern. Wir verschlafen Digitalisierung und Modernisierung und die Kanzlerin entschuldigt sich, in der Klimapolitik zu wenig getan zu haben. Und trotzdem gilt die grüne Kanzlerkandidatin einigen als „zu ehrgeizig“ und die CDU setzt auf den gemütlichen Laschet, der nicht nur bei den Corona-Maßnahmen ein Merkel-Bremser war, zu lasch und locker. So wird das nichts. Bei allem Verständnis fürs „Moderieren“ als Politikstil, wir brauchen mehr Modernisierung! Es wird Zeit für mehr Vorwärtsenergie und mehr junge Stimmen in der Politik. Zeit für Veränderungen, politische Korrekturen – und für ein Wahlrecht auch für die Jungen und überhaupt für alle in Deutschland lebenden Menschen!